Gesellschaft für Werdenberger Geschichte und Landeskunde

Amputieren im Akkord

19.01.2022

Verwundete warten vor dem Kriegslazarett in Riga auf den Abtransport, Sommer 1942. AfZ: NL Paul Handschin / 3 (Siehe Text von Werner Hagmann im Anschluss an die Bildstrecke)

Bestände zu den schweizerischen Ärztemissionen an die deutsche Ostrfront im Archiv für Zeitgeschichte an der ETH Zürich.

Die Briefpost als einzige Verbindung zur Heimat – von der deutschen Militärzensur systematisch geöffnet. Der blaue Diagonalstreifen rührt von der Prüfung auf eine mögliche unsichtbare Geheimschrift. AfZ: NL Oscar Studer / 2

Deutsch-russischer Frontverlauf am 1. Februar 1943. Beilage der «Schweizer Illustrierten Zeitung». AfZ: KA Kartensammlung AfZ / 49

Zielgebiete und Einsatzdauer der vier schweizerischen Ärztemissionen an die deutsche Ostfront.

Teilnehmer und Teilnehmerinnen der 1. Mission. AfZ: NL Ernst Gerber / 9

Rudolf Bucher, Chef des Blutspendediensts und unbeirrbarer Gegenspieler von Eugen Bircher. AfZ: NL Ernst Gerber / 9

Eugen Bircher (vorne links) – Mitinitiant und Leiter der Missionen, Oberstdivisionär, Chirurg, ab 1942 Nationalrat. AfZ: BA Fotosammlung Keckeis / 24

Karikatur von Charles Hindenlang im Satireblatt «Der Grüne Heinrich», August 1945. AfZ: NL Hans U Steger / 1753

Fritz Thönen, Arzt aus Zweisimmen. Peter Fischer, ein Teilnehmer der 2. Mission, charakterisiert ihn als überzeugten Sympathisanten des NS-Regimes. AfZ: NL Zahn-von Wurstemberger / 19

Vor der Abreise wurden alle Teilnehmenden gegen Fleckfieber geimpft. AfZ: NL Zahn-von Wurstemberger / 19

Ausrüstungsliste, zusammengestellt vom Komitee für Hilfsaktionen. AfZ: NL Arnold Brack / 12

Margrit Haag, Krankenschwester (4. Mission). Auf der Mütze gut erkennbar das Schweizerkreuz. AfZ: BA Fotosammlung AfZ / 1000

Bewaffnete Missionsteilnehmer in Stalino im Winter 1942/43. AfZ: BA Fotosammlung AfZ / 1000

Abfahrt der 1. Ärztemission in Bern, Oktober 1941. AfZ: NL Frédéric Rodel / 8

Der Personalausweis der deutschen Wehrmacht, der sog. «Keitel-Pass», wurde den Teilnehmenden nach dem Grenzübertritt ausgehändigt. AfZ: NL Herz-Hablützel / 3

Deutsche Erkennungsmarke («Grabstein») aus der Zeit der 1. Mission nach Smolensk. AfZ: BA Fotosammlung AfZ / 1001

Auf dem Weg nach Osten im Lazarettzug, Herbst 1941. Oberstdivisionär Bircher vorne in der Mitte. AfZ: BA Fotosammlung AfZ / 100

«Russischer Eisenbahner», vor dem Lazarett-Zug «L.Z. No. 673 Kr.-W. No. 12», vermutl. in Stalino. AfZ: NL Ulrich von Rütte / 7

Inneres eines Verwundetenwagens in einem Lazarettzug. AfZ: BA Fotosammlung AfZ / 1001

Kriegslazarett 2/608 im Hinterland, Riga, 1942. AfZ: NL Troesch-Eichenberger / 11

Kriegslazarett in Frontnähe, Stalino, 1942/43. AfZ: NL Therese Bühler / 3

Chirurgen an der Arbeit (2. Mission in Warschau). AfZ: NL Zahn-von Wurstemberger / 19

Operationssaal im Kriegslazarett in Riga. AfZ: NL Troesch-Eichenberger / 11

Plakate in Riga warnen vor den vom allgegenwärtigen Ungeziefer und vom Trinkwasser ausgehenden Gefahren. AfZ: NL Robert Hegglin / 5

«Gestorben [
] an einer Sepsis nach Wanzenbiss» - Schwester Andrea Casagrande. AfZ: NL Zahn- von Wurstemberger / 19

Soldatenfriedhof, vermutl. in der Gegend von Stalino. AfZ: BA Fotosammlung AfZ / 1000

Hinrichtung in der Gegend von Pleskau / Pskow, 1942. AfZ: BA Fotosammlung AfZ / 1002

«Wehrmachts-Marketenderware» – flüssiges Beutegut aus Frankreich zwecks Hebung der Stimmung am Kameradschaftsabend. AfZ: NL Zahn-von Wurstemberger / 19

Missionsteilnehmer bei bitterer Kälte in Stalino, vermutlich auf dem zugefrorenen Fluss Kalmius, 1942/43. AfZ: NL Thérèse Bühler / 3

Peter Fischer erhielt von deutscher Seite die Gelegenheit zu einer «Führung» durch das Warschauer Ghetto. AfZ: NL Zahn-von Wurstemberger / 19

Angehörige mit einem Rabbiner (links) auf dem Friedhof des Warschauer Ghettos, aufgenommen vermutlich von einem deutschen Sanitätssoldaten. AfZ: NL Rudolf Bucher / 28

Massaker an jüdischen Zivilisten in Riga. Tagebuchnotiz von Gerhard Weber vom 29. August 1942. AfZ: NL Gerhard Weber / 5

Judenerschiessungen in Lettland: Tagebucheintrag von Robert Hegglin. AfZ: NL Robert Hegglin / 1

Transport russischer Kriegsgefangener bei eisiger Kälte in offenen Eisenbahnwagen, Oktober 1941. AfZ: NL Hubert de Reynier / 6

«Untermenschen» oder «Herrenvolk»? «Rumänen auf dem Rückzug», Januar 1943. AfZ: NL Ulrich von Rütte / 23

«Frische Gefangene vom Wolchow»: Einzug russischer Kriegsgefangener in Riga, Sommer 1942. AfZ: BA Fotosammlung AfZ / 1002

«Nun, da es ans Abschiednehmen geht 
» – Sentimentaler Eintrag eines Landsers ins Poesiealbum der Missionsteilnehmerin Ruth Hablützel, 1942. AfZ: NL Herz-Hablützel / 23

Die Russen auf den Fersen: Steckengeblieben beim hastigen Rückzug von Stalino nach Saporoshje, Januar 1943. AfZ: BA Fotosammlung AfZ / 1000

"Rückzug im B.V.Z. [Behelfsmässigen Verwundeten-Zug»]. Lokwechsel in Slawiansk. 27.1.43". AfZ: NL Ulrich von Rütte / 7

Abschied im Bahnhof Luzern, 2. Mission, April 1942. AfZ: NL Zahn-von Wurstemberger / 19

Ein Beteiligter spricht Klartext – 1967 veröffentlichte Rudolf Bucher seine Erinnerungen, welche eine heftige Kontroverse auslösten. AfZ: BA AfZ-Bibliothek C 6049

Quellenbestände im Archiv für Zeitgeschichte (AfZ) an der ETH Zürich geben Aufschluss über die Schweizer Ärztemissionen an der deutschen Ostfront 1941–1943.

Seit 1966 sichert und erschliesst das Archiv fĂŒr Zeitgeschichte (AfZ) an der ETH ZĂŒrich private QuellenbestĂ€nde und betreibt somit gewissermassen Grundlagenforschung. Der langjĂ€hrige AfZ-Mitarbeiter und WGL-Vorstandsmitglied Dr. phil. Werner Hagmann veranschaulicht dies hier exemplarisch am Thema Ärztemissionen

WERNER HAGMANN, ZĂŒrich/Sevelen

Am 22. Juni 1941 eröffnete Deutschland einen ĂŒberfallmĂ€ssigen Angriffskrieg gegen Sowjetrussland und erzielte innert kurzer Zeit gewaltige Gebietsgewinne. In der Schweiz lancierten germanophile Kreise um OberstdivisionĂ€r Eugen Bircher und den Schweizer Gesandten Hans Fröhlicher in Berlin die Idee, als Geste des guten Willens gegenĂŒber dem «Dritten Reich» eine freiwillige Ärztemission an die deutsche Ostfront zu entsenden. Der Anstoss dazu scheint vom prominenten Berliner Chirurgen Ferdinand Sauerbruch ausgegangen zu sein. Da aus NeutralitĂ€tsgrĂŒnden eine offizielle TrĂ€gerschaft nicht infrage kam, wurde eigens ein Komitee fĂŒr Hilfsaktionen unter dem Patronat des Schweizerischen Roten Kreuzes geschaffen. Finanziert wurden die Missionen durch die Wirtschaft.

Archiv fĂŒr Zeitgeschichte sichert Dokumente von Beteiligten
Angeregt durch den Dokumentarfilm «Mission en enfer» (2003) von FrĂ©deric Gonseth, worin die letzten damals noch lebenden Zeitzeugen der Missionen zu Wort kamen, ist es dem Archiv fĂŒr Zeitgeschichte (AfZ) an der ETH ZĂŒrich gelungen, eine grössere Zahl von QuellenbestĂ€nden aus dem Besitz ehemaliger Missionsteilnehmer zu sichern und zugĂ€nglich zu machen. Vereinzelte BestĂ€nde – darunter der Teilnachlass von Eugen Bircher oder Nachlass von Rudolf Bucher – waren schon bei frĂŒherer Gelegenheit ins AfZ gelangt.

Welche Art von Dokumenten finden sich in diesen BestĂ€nden? Neben SchriftstĂŒcken organisatorischer bzw. amtlicher Art sind dies insbesondere Korrespondenz mit den Angehörigen in der Heimat, tagebuchartige Aufzeichnungen des Erlebten, Fotografien (was angesichts der offiziellen Fotoverbots erstaunt), einzelne GegenstĂ€nde («Souvenirs») sowie Presseberichte. Zu den zeitgenössischen Unterlagen kommen solche aus der Retrospektive hinzu, zur historischen Aufarbeitung der Missionen (publizierte Erinnerungen, Interviews etc.).

Auf Voranmeldung hin sind diese Unterlagen fĂŒr alle Interessierten im Archiv fĂŒr Zeitgeschichte (https://www.afz.ethz.ch/) zugĂ€nglich. Alle Quellenzitate in diesem Text stammen aus BestĂ€nden im AfZ, ebenso alle Abbildungen.

Von Smolensk bis Stalino – vom Sturm auf Moskau zum Desaster von Stalingrad
Zwischen dem deutschen Vorstoss Richtung Moskau im Winter 1941/42 und dem Desaster von Stalingrad im Winter 1942/43 kamen so insgesamt vier Missionen zustande mit jeweils rund 80 Beteiligten (Ärzten, Krankenschwestern, medizinischem Hilfspersonal, SekretĂ€rinnen, Motorfahrern) fĂŒr eine Einsatzdauer von rund drei Monaten. WĂ€hrend die Zielgebiete der ersten und vierten Mission (Smolensk bzw. Stalino) in FrontnĂ€he lagen, waren die zweite und dritte Mission mit Warschau und Riga im Hinterland angesiedelt.

FĂŒr die Teilnehmer galt eine strikte Schweigepflicht, ebenso ein Verbot, Fotoapparate mitzunehmen. Ohne ihr Wissen wurden sie der deutschen Wehrmachtsberichtsbarkeit unterstellt. In der Vereinbarung zwischen dem Oberkommando des Heeres und dem Komitee fĂŒr Hilfsaktionen unter dem Patronat des SRK vom Oktober 1941, war dazu in Art. 15 («Rechtliche und dienstliche Unterstellung») u.a. festgehalten: «Die Mitglieder der freiwilligen Schweizer Hilfsaktion unterstehen [
] als Heeresgefolge beim Feldheer der deutschen Wehrmachtsgerichtsbarkeit und den militĂ€rischen deutschen Strafgesetzen, sowie der Disziplinarstrafordnung fĂŒr das Heer». Erst bei spĂ€teren Missionen scheint dies gegenĂŒber den Teilnehmenden offengelegt worden zu sein. Ausserdem war ihnen die Behandlung russischer Verwundeter untersagt – ein Verrat sowohl am NeutralitĂ€tsprinzip wie auch an den GrundsĂ€tzen des Roten Kreuzes.

Motivation – zwischen Idealismus, Weiterbildung, Abenteuerlust und Politik
Die Motivation der Teilnehmenden war sehr unterschiedlich: WÀhrend die einen einfach humanitÀre Hilfe leisten wollten, sahen andere darin eine einmalige Gelegenheit zur beruflichen Weiterbildung (Kriegschirurgie). Robert Hegglin etwa schreibt dazu in Riga: «Besondere Freude macht mir die Infektionsabteilung, weil ich hier nun die Gelegenheit habe, eine Menge von Infektionskrankheiten en masse zu sehen, wie ich das zu Hause niemals könnte, z.B. Malaria, Wolhynisches Fieber, Flecktyphus, Typhus usw.»

Auch Abenteuerlust und die politische Gesinnung konnten eine Rolle spielen. Neben vielen eher unpolitischen Teilnehmenden fanden sich auch dezidierte Gegner des NS-Regimes wie Rudolf Bucher (der spĂ€tere MitbegrĂŒnder der Schweizerischen Rettungsflugwacht REGA), aber auch ĂŒberzeugte BefĂŒrworter darunter. Die politische Haltung von Eugen Bircher, Mitinitiant und eigentlicher «Kopf» der Missionen, entlarvt eine Äusserung gegenĂŒber dem Generaladjutanten des Generalobersten Fedor von Bock wĂ€hrend seines Aufenthalts an der Ostfront 1942: «Ich bitte Sie, Herr Generaladjutant, sagen Sie Ihrem FĂŒhrer, dass wir, die freiwillige schweizerische Ärztemission an der deutschen Ostfront, ihm dankbar sind, dass wir Schweizer mithelfen dĂŒrfen im Kampf gegen den Bolschewismus.» Alfred Cattani, damals stv. Chefredaktor, meinte in der NZZ vom 17./18.9.1988: «Bircher hat diese Mission eindeutig nicht als humanitĂ€r, sondern vornehmlich politisch verstanden. Damit liess er sich [
] von den Deutschen als Instrument missbrauchen [
]».

Als feuriger AnhĂ€nger des NS-Regimes entpuppte sich auch Fritz Thönen (Auszug aus dem Bericht von Peter Fischer von der 2. Mission): «Thönen: Arzt in Zweisimmen. Er gab sich von Anbeginn als Freund und Verehrer des Nationalsozialistischen Regimes zu erkennen. Thönen und 3 weitere Ärzte wurden mit einigen Schwestern als Einzige nicht in Warschau, sondern in Radom eingesetzt. Ausser einem kleinen Besuch bei uns in der Zwischenzeit sahen wir sie erstmals wieder auf der RĂŒckfahrt, wo sie durch ihr Benehmen auffielen. Thönen und seine 3 Kameraden rĂŒhmten lautstark ihren Aufenthalt in Radom, wie sie von der dortigen SS herzlich aufgenommen wurden, stets an ihren GemeinschaftsanlĂ€ssen teilnahmen. Sie seien als ihresgleichen betrachtet worden, lernten eifrig ihre Sprechweise und ihre Lieder, von denen sie wĂ€hrend der Fahrt immer wieder MĂŒsterchen zum Besten gaben.»

Vorbereitung und Hinreise
Sobald den Bewerbern eine Zusage fĂŒr die Teilnahme an eine Mission vorlag, begannen die Vorbereitungen. Dazu gehörte die Impfung gegen Fleckfieber und Pocken, weitere Impfungen folgten wĂ€hrend der Mission. Die AusrĂŒstung richtete sich nach einer vom Komitee zusammengestellten Liste. Auch die Anfertigung der Spezialuniform oblag den Teilnehmenden. Um wenigstens Ă€usserlich den Schein von NeutralitĂ€t zu wahren, kam die normale MilitĂ€runiform nicht in Frage. Es handelte sich um eine dunkelblaue Phantasieuniform ohne Rangabzeichen, einzig mit einem Schweizerkreuz auf der MĂŒtze, bei den Ärzten zusĂ€tzlich mit dem Äskulapstab am Ärmel. Die mĂ€nnlichen Teilnehmer waren zudem mit einer Dienstwaffe zwecks Selbstverteidigung ausgerĂŒstet.

EinrĂŒcken mussten die Teilnehmenden in Bern, wo sie verabschiedet wurden und wo die lange Reise mit der Bahn begann. Nach dem GrenzĂŒbertritt wurden Personalausweis der Wehrmacht («Keitel-Pass») und deutsche Erkennungsmarke («Grabstein») ausgehĂ€ndigt.

In Berlin wurden die Missionen von deutscher Seite offiziell begrĂŒsst. Von dort ging es in mehrtĂ€giger Fahrt nach Osten, in der Regel in einem Lazarettzug. Dieser wird von Paul Handschin beschrieben, der mit der 3. Mission nach Riga reiste: «Um 12.00 reisten wir vom Potsdamerbahnhof [Berlin] weg dem Osten entgegen in einem leeren Lazarettzug, der wieder an die Front zurĂŒckfuhr. Der Zug ist sehr gut eingerichtet, besteht aus etwa 12 Wagen, teils 1. oder 2. Klasswagen, zum Teil Wagen mit zwei Reihen ĂŒbereinander montierter Betten. Außerdem enthĂ€lt der Zug einen Bureauwagen mit Telephon, einen Operationswagen, in dem dringende Operationen wie Stillen von Blutungen vorgenommen werden können. In einem KĂŒchen­wagen kann fĂŒr 300 - 400 Mann gekocht werden.»

«Verwundet zu 90 Prozent nicht durch Feindeinwirkung, sondern durch ‘General Winter’» 
Viele Teilnehmende habe ihre Erlebnisse in tagebuchartigen Aufzeichnungen festgehalten. Der Alltag im Kriegslazarett nimmt darin meist breiten Platz ein. Wie unvorstellbar grauenvoll dieser Alltag oft gewesen sein muss, lĂ€sst schon die pointierte EinschĂ€tzung von Ernst Ruppaner, Chefchirurg, erahnen, der nach seiner RĂŒckkehr von der 1. Mission in Smolensk konstatierte: «Das ist keine Chirurgie mehr, das ist SchlĂ€chterei».

Auch bei den EinsĂ€tzen im «Hinterland» bekamen die Teilnehmer die Auswirkungen des Krieges in ihrer vollen HĂ€rte zu sehen – dazu ein Auszug aus Bericht von Peter Fischer von der 2. Mission in Warschau:

«In den 12 - 14 Mann fassenden umgewandelten Schul­zimmern lagen die eingelieferten Verwundeten. Verwundet zu 90% nicht durch Feindeinwirkung, sondern durch ‘General Winter’, wie sich die Deutschen verniedlichend ausdrĂŒckten. Alles Erfrierungen 3. Grades zum Einen von Nase und Ohren, meist aber der unteren ExtremitĂ€t: bei Einigen bis alle Zehen, bis Mittelfuss, bis Sprunggelenk, bis zum Knie reichten die weissen, puls- und gefĂŒhllosen Partien, gegen das noch Gesunde durch eine eitrige stinkende Demarkationslinie abgegrenzt. [
] war einmal die Demarkationslinie klar abgezeichnet, griff man zu Schere und Pinzette und trennte den abgestorbenen Gliedteil ab: 2 Zehen, 20 Zehen, 70 Zehen pro Morgen. Eine AnĂ€sthesie erĂŒbrigte sich, alles war ja schon gefĂŒhllos.»

«Mit beiden Beinen in den Himmel  » – ungeschönter Lazarettalltag
Rudolf Bircher, der im Rahmen der 4. Mission in Stalino – also in FrontnĂ€he – stationiert war, legt das durch die Kesselschlacht von Stalingrad verursachte Grauen schonungslos offen:

«8.12.1942. Dieser schreckliche Tag. Grauen. 45 frisch Verletzte aus dem Kessel von Stalingrad. [
] Frische Luftlandetruppen direkt aus Deutschland wurden in den Kessel geworfen. Die ersten Opfer liegen da auf Bahren und Operationstisch, in den kalten DurchgĂ€ngen und den kleinen kalten Zimmern. Und stöhnen und jammern leise. Wasser! Cigaretten! Mit mĂŒden Blicken. Struppigen Haaren. Tage- und wochenlang unrasiert. Ungewaschen. [
] Eingefallenen Backen. Und zitternden Gliedern. [
] Alle 45 Burschen werden der Reihe nach im Operationssaal vorgenommen. Neu verbunden. Incidiert. Mehrere amputiert. Immer dasselbe, Um gotteswillen mein Bein. ‘Was willst du lieber: mit beiden Beinen in den Himmel oder mit einem Bein in die Heimat?’ Der Seelenkampf war bald entschieden. [
] Gegen Mitternacht gehen wir noch ins Kasino. Zum Nachtessen. Wir sitzen beisammen mit den deutschen Kameraden und trinken ein paar Cognaks.»

Neben den Verletzungen machten Patienten und Personal auch die allgegenwĂ€rtige Wanzen- und LĂ€useplage zu schaffen – Therese BĂŒhler dazu aus Stalino: «Nur das Ungeziefer war das Schrecklichste an allem. Dessen wurde man im ganzen Lazarett nicht Herr.»

Überlebten Wehrmachtsangehörige ihre Verletzungen, bedeutete dies aber nicht in jedem Fall die «Rettung»: «Heute traf ich einen degradierten Oberleutnant. Er war auf der Station, um sich eine Handwunde verbinden zu lassen. Morgen wird er erschossen. Weil er seine Kp.-Stellung ohne ausdrĂŒcklichen Befehl rĂ€umte. [
] Mehrmals in dieser Woche wird hier in Stalino executiert»

«Marketenderware» – flĂŒssiges Beutegut zur Hebung der Truppenmoral
Der belastende Lazarettalltag förderte wohl bei vielen Teilnehmern die Bereitschaft, wenigstens fĂŒr kurze Zeit Ablenkung im Alkohol zu suchen. Unter den Weinen und Spirituosen befand sich auch Beutegut vor allem aus Frankreich, das unter dem Begriff «Wehrmachts-Marketenderware» erhĂ€ltlich war. Dass dies den Beteiligten durchaus bewusst gewesen sein muss, zeigt die Aussage der ehemaligen Missionsteilnehmerin Elsi Eichenberger, die im Interview fĂŒr den Film «Mission en enfer» vielsagend von «französischer Erbschaft» spricht. Arnold Brack berichtet dazu von der 4. Mission aus Rostow am Don:  «11.Februar [1943]. Die Russen sollen doch im AnrĂŒcken sein. Circa 180 km vor Dnjepropetrowsk. Die Marketenderwaren werden heute ausgegeben: Sekt, Wein Cognac, Zigaretten. Unsere Gesellschaft ergibt sich dem Festen. Alle wollen die Gelegenheit benĂŒtzen, noch einmal richtig lustig zu sein.»

«AbgÀnge durch Tod oder Versetzung in andere Lager (lies Vernichtungslager)»
Grauenvolles spielte sich nicht nur im Lazarett ab. Verschiedene Teilnehmende wurden direkt oder indirekt auch Zeugen der von deutscher Seite begangenen GrĂ€ueltaten und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Rudolf Bucher etwa, damals Chef des Blutspendediensts der Armee, wurde Augenzeuge einer Geisselerschiessung in Smolensk – er berichtete darĂŒber in der Fernsehserie «Die Schweiz im Krieg» (1973) von Werner Rings. Die authentische und prĂ€zise Schilderung dieses Massakers ist auch Jahrzehnte danach nur schwer zu ertragen.

Peter Fischer, Teilnehmer der zweiten Mission, konnte dank einer zufÀlligen Reisebekanntschaft ganz offiziell das Warschauer Ghetto besuchen:
«Durch die Vermittlung unseres freundlichen Mitreisenden von Zakopane wurden wir mit dem Beauftragten fĂŒr jĂŒdisches Siedlungswesen im Generalgouvernement bekannt gemacht. Der empfing uns in seinem Bureau und gab uns erst einige AuskĂŒnfte ĂŒber sein Arbeitsgebiet. Im Ghetto fĂ€nden ungefĂ€hr 500’000 Menschen Platz. Die AbgĂ€nge durch Tod oder Versetzung in andere Lager (lies Vernichtungslager) in der Höhe von durchschnittlich 300 Menschen pro Tag wĂŒrden dauernd ersetzt durch Juden aus anderen Gegenden. [
]

Im Ghetto erlebte Fischer aus unmittelbarer NĂ€he die grauenhaften Lebensbedingungen der eingepferchten jĂŒdischen Bevölkerung, die dort bis zu ihrer Deportation in die Vernichtungslager dahinvegetierten. Dazu ein kleiner Ausschnitt aus seinem Bericht:

Wir konnten wĂŒnschen, was wir noch sehen wollten. So wurden wir zu einem GefĂ€ngnis gefĂŒhrt. Im Eingangsraum war eine Tafel: "240 PlĂ€tze. Bestand heute: 1420 Insassen". Dicht eingepfercht standen junge Burschen in den RĂ€umen. Sitzen oder liegen konnten sie ja nicht. Es stank fĂŒrchterlich nach AusdĂŒnstungen und Exkrementen. Unser FĂŒhrer erklĂ€rte uns, das seien alles Jugendliche, die durch irgend ein Schlupf­loch [
] in die Stadt gelangten und dann dort aufgegriffen wurden. Sie wĂŒrden fĂŒr 2-3 Tage hier eingesperrt. Erwachsene, die ohne spezielle Bewilligung in der Stadt geschnappt wĂŒrden, mĂŒssten sofort erschossen werden.»

Auf eigene Faust konnte Fischer sich zusammen mit einem Kollegen durch eine kurzfristig bestehende kleine Bresche in der Friedhofsmauer auch noch Zutritt zum vom ĂŒbrigen Ghetto abgetrennten Ghettofriedhof verschaffen, wo er Berge von Leichen und MassengrĂ€ber sah.

«Das ist das neue Europa, die Kultur des 20. Jahrhunderts»
Gerhard Weber bekam – wie auch andere Teilnehmer der dritten Mission – Kenntnis von den Massenerschiessungen von Juden in Riga:

«Samstag, 29.8.42. Am letzten Sonntag soll wieder ein Judentransport im Kaiserwald bei Riga erschossen worden sein. Man redet von 28 Lastwagen. Diesmal geht das GerĂŒcht nicht von Letten, sondern von deutschen Soldaten aus. Diese Massenvernichtungen gehen nach den zirkulierenden GerĂŒchten folgendermassen vor sich: Die Leute werden in Autos mit Verpflegung an den Hinrichtungsort gebracht. Es wird Ihnen erklĂ€rt, sie hĂ€tten hier Erdarbeiten auszufĂŒhren. Sie mĂŒssen dann einen langen Graben ausheben. Ist dieser fertig, werden sie von der bevorstehenden Hinrichtung verstĂ€ndigt. Gliederweise werden sie dann mit Maschinengewehren und Maschinenpistolen niedergestreckt und in die Gruben geworfen, das nachfolgende Glied hat das getötete mit Chlorkalk zu bestreuen. Die Exekution werde von Sonderkommandos der SS durchgefĂŒhrt, gewöhnlich von lettischen Schutzmannschaften (dem Abschaum des lettischen Volkes). Das ist das neue Europa, die Kultur des 20. Jahrhunderts.»

«Die Deutschen machen es einem moralisch denkenden Menschen schwer [
]»
Von den Judenerschiessungen in Lettland berichtet auch Robert Hegglin, ebenfalls Teilnehmer der 3. Mission, in seinem Tagebuch:

«Es muss noch eine Frage gestreift und besprochen werden, welche zwar Ă€usserst penibel ist, aber in einem objektiven Bericht nicht fehlen darf: Die Judenfrage. Es kann - nach den mir vorliegenden Berichten von deutschen Soldaten, Offizieren und Letten keinem Zweifel unterliegen, dass in der Umgebung von Riga seit der deutschen Besetzung nahezu 100'000 Juden erschossen worden sind. Die Angaben schwanken zwischen 40'000 + 90'000. Judenerschiessungen sind auch in allen andern grösseren Orten in Lettland vorgenommen worden. [
] Es sollen an einem Tag bis 1000 Erschiessungen vorgenommen worden sein. Die Juden schaufeln ihr Massengrab offenbar selbst. Werden dann aufgefordert, sich nackt auszuziehen, wobei gut organisiert Ringe und Kleider an verschiedenen Orten abgegeben werden mĂŒssen - so erzĂ€hlt dieser Lette. Dann erfolgt die Erschiessung durch Maschinenpistolen oder auch Nackenschuss. Die Erschiessung wird an MĂ€nnern, Frauen und Kindern gleicher Weise durchgefĂŒhrt. Wie es sich mit der AusschmĂŒckung dieser Erschiessungen verhĂ€lt, weiss ich nicht, absolute Tatsache aber dĂŒrfte sein, dass hier in Lettland Tausende von Juden von Letten (unter deutschem Befehl) erschossen worden sind.
Dass es gegenĂŒber diesen Massnahmen unsererseits nur schĂ€rfste Ablehnung geben kann, dĂŒrfte zweifellos sein. Die Deutschen machen es einem moralisch denkenden Menschen schwer, sich fĂŒr sie einzusetzen. Haben sie diese blutigen Schandtaten tatsĂ€chlich notwendig? Dann sind sie auch nicht berufen, die Herren Europas zu werden.»

Chaotischer RĂŒckzug nach dem Fall Stalingrads
Nach der deutschen Niederlage in Stalingrad Ende Januar / Anfang Februar 1943 waren plötzlich auch die rĂŒckwĂ€rtigen Lazarette, wo die Teilnehmer der 4. Mission eingesetzt waren, gefĂ€hrdet und mussten teils unter chaotischen Bedingungen ĂŒberstĂŒrzt evakuiert werden. Die in Stalino stationierte ThĂ©rĂšse BĂŒhler berichtet dazu Folgendes:

«Tags nachher teilte uns dann unser Chef, Herr Hptm. Howald mit, dass es vorgesehen sei, dass wir am 14.2. [1943] nach Dnjepropetrowsk zurĂŒckversetzt werden sollen. [
] Wegen Durchbruch und Zerstörung der Bahnlinie Stalino - Dnjepropetrowsk durch die Russen [war es aber] nicht mehr möglich [
] per Bahn nach rĂŒckwĂ€rts zu kommen. Nach gewaltigen Anstrengungen gelang es Hptm. Howald die dortige Heeresleitung dazu zu bewegen, uns zwei Autobusse zur VerfĂŒgung zu stellen, und am 15.2. am Morgen fuhren wir sĂŒdwĂ€rts durch die Steppe nach Saporoshje. Dieser RĂŒckzug war fĂŒr mich ein Erlebnis, das ich zeitlebens nicht mehr vergessen werde. [
] [Es] tat sich zur linken und rechten Seite unseres fahrenden Busses ein Bild auf, das an die Bilder von ‘Marignano’ erinnert.»

Nicht viel besser ging es dem in Rostow eingesetzten Arzt Arnold Brack. Immerhin ist noch ein RĂŒckzug per Bahn möglich: 
«21. Januar [1943]. Neuer Befehl: Lazarett muss gerĂ€umt werden. Nur Sterbende bleiben zurĂŒck. [
] 27. Januar [
] Unser Wagen: auf der einen Seite 4 Pritschen. Auf der andern Strohlager. Mitten drin ein Ofen und eine Bank. Eine Kiste mit Kohlen. Die SchiebetĂŒren mit Wolldecken vermacht. Nachts brennt eine Laterne. Neben dem Ofen eine Bank. Wir fahren erst gegen 9 Uhr los. Gegen Mittag erreichen wir Slaviansk. [
] Durch ein kleines, viereckiges Guckloch schauen wir uns Russland an. Noch einmal kommt ein gewaltiges Fabrikareal. Dann sieht man nur noch die Ebene und die kleinen russischen Dörfchen mit StrohhĂ€uschen. Der Wind heult um die Wagen und zieht durch die Ritzen. Trotz den TĂŒchern zieht es.»

Kontroverse Aufarbeitung
Dezidierte Kritik an den Missionen wurde bereits von den Teilnehmern selbst, und zwar schon wĂ€hrend und unmittelbar nach den Missionen erhoben, also keineswegs nur aus zeitlicher Distanz und von «Nachgeborenen», die nicht «dabei gewesen» seien, wie dies von den Missionen gegenĂŒber unkritisch Eingestellten mitunter suggeriert wird. Diese Kritik galt nicht primĂ€r den einzelnen Teilnehmenden, sondern den Missionen an sich, deren Initianten die Missachtung von NeutralitĂ€t und Rotkreuzidealen bewusst in Kauf nahmen. Einzelne Teilnehmer meldeten ihre Beobachtungen zwar bereits unmittelbar nach ihrer Heimkehr den zustĂ€ndigen militĂ€rischen und zivilen Stellen – bewirkt scheint dies aber kaum etwas zu haben.

Nach dem Krieg begannen verschiedene Missionsteilnehmer und -teilnehmerinnen ihre Erlebnisse zu publizieren. Rudolf Bucher löste mit seinem 1967 erschienen Buch «Zwischen Verrat und Menschlichkeit», worin er auch die erlebten Kriegsverbrechen dokumentiert, eine heftige Kontroverse um die Beurteilung der Missionen aus. Eine erste und bis heute wegweisende wissenschaftliche Aufarbeitung leistete Willi Gautschi in der «Geschichte des Kantons Aargau» (1978), aus welchem Eugen Bircher, der «Kopf» der Missionen, stammte.

HJR