Erinnerung an Dr. phil. Valentin Vincenz

Valentin Vincenz, 11. Juli 1942 – 20. September 2021

Wohl niemand, der ihn kannte, hätte daran gedacht, dass er so unerwartet von dieser Welt scheiden würde. Valentin Vincenz, der markante Bündner Oberländer, wohlbekannt in seinem Herkunftsdorf, anerkannt im Sarganserland, wo er arbeitete, hochgeschätzt auch in der Region Werdenberg, wo er seit Jahrzehnten lebte. Er war ein gemütlicher Familienmensch, geliebt von den Seinen, geachtet in der Öffentlichkeit. Er war auch ein unterhaltsamer und anregender Freund und Kollege. Ein engagierter Vermittler französischer und italienischer Sprache und Kultur an der Kantonsschule Sargans. Er war als Romanist und Namenforscher auf dem Boden des historischen Unterrätien tätig und ein ausgezeichneter Kenner unserer Region. Weiter war er bekannt als Verfasser von sinnreichen, warmherzigen Kinderbüchern. Und er war passionierter Kanada-Reisender, immer wieder unterwegs in British-Columbia und am Rande der Wildnis von Yukon mit ihrer überwältigenden Natur, ihrem besonderen Menschenschlag. Davon berichtete er immer wieder, und über viele seiner Eindrücke dort drüben hat er auch geschrieben.

Valentin war begabt mit heiterer Wesensart und raschem Witz, er verstand es, Situationen durch kurze Bemerkungen treffsicher zu charakterisieren oder auch zu entlarven. Da wir die Studienjahre in Zürich zusammen verbracht und auch später an gemeinsamen Projekten intensiv zusammengearbeitet haben, erinnere ich mich an unzählige Momente entspannter Heiterkeit, wo er in fröhlicher Runde lustige Erinnerungen und witzige Einfälle zum Besten gab.

Daneben war ihm auch eine tiefgründige, dunkle Seite eigen. Er, der im bündnerischen Andiast (über Wal­tensburg) in einer währschaften romanischen Bauernfamilie aufgewachsen war, sprach oft vom harten Los der Kinder aus den Bündner Bergdörfern, welche die schulfreien Sommermonate als Hüterbuben oder Kindermädchen im deutschsprachigen Unterland und in wildfremden Familien verbringen mussten, um so die Eltern daheim zu entlasten, auch auf unbekannten Alpen mit unbekanntem Personal, nicht selten in liebloser, grober Umgebung. Er selbst war eines dieser Kinder, er musste schon mit acht Jahren auf diese Weise fremdes Brot essen. Wohl hatte er das Glück, dass er die schlimmsten Dinge, die er viel später beschrieben hat, nicht am eigenen Leib erlebte – aber er sah manches mit an und erfuhr vieles von anderen.

Dass der aufgeweckte Knabe, zweiter von vier Söhnen des Sennen und Bauern Balzer Vincenz und der Mariurschla, geborene Sgier, das Gymnasium besuchen durfte (zuerst ein katholisches Institut in der Inner­schweiz, dann die Kantonsschule Chur), war damals alles andere als selbstverständlich, zumal auf dem Land – auch bei uns im Werdenberg war dies damals nicht anders. Zwischen 1965 und 1971 studierte er romanische Sprachwissenschaft an den Universitäten Zürich und Genf. Schon während des Studiums fand er Anschluss an die kurz zuvor in Gang gekommenen Forschungsarbeiten zur Erhebung und Deutung der Orts-, Flur- und Geländenamen in der Region Werdenberg. Er debütierte mit der entsprechenden Bearbeitung der Gemeinden Buchs und Sevelen, was die Grundlage für seine Dissertation ergab, welche 1983 erschienen ist.

Seit Frühjahr 1971 wirkte er erfolgreich als Hauptlehrer für Französisch und Italienisch an der acht Jahre zuvor eröffneten Kantonsschule Sargans; dort hat er während nicht weniger als 35 Jahren als beliebter und geachteter Pädagoge und Lehrer gewirkt. Daneben blieb er trotz vollem Schulpensum weiter in der Namenforschung tätig (nun in den Gemeinden Gams, Sennwald, Vilters und Wangs). Es folgten weitere schöne Publikationen, vor allem namenkundlicher, aber auch volkskundlicher Ausrichtung.

Valentin Vincenz war es vergönnt, in der Geborgenheit einer stabilen und harmonischen Kernfamilie zu leben, zusammen mit seiner Frau Rosmarie (der er nach Buchs gefolgt war) und seinen Kindern Reto, Corina und Barbara, zu denen später auch die sechs Enkelkinder kamen. Am Turmweg hatte er sich sein Heim erbauen lassen. Hier konnte er sich in Haus und Garten und auch im Kreis guter Kollegen von den Anforderungen der Berufsarbeit erholen.

In der Uniun Rumantscha Rezia Bassa hielt er den Kontakt zu seinen ebenfalls ins Unterland ausgewanderten Bündner Landsleuten aufrecht; in diesem Kreis fand er Gelegenheit, seine Muttersprache zu pflegen.

Seit einiger Zeit musste Valentin gesundheitliche Rückschläge in Kauf nehmen. Aber sein Geist war wach, sein Gestaltungswille lebendig geblieben. Hatte er zuvor mehr über fachliche, populärwissenschaftliche und kulturgeschichtliche Themen geschrieben, drängten nun persönliche Anliegen in den Vordergrund. Es gab da, wie schon angetönt, dunkle Zonen in seiner Kindheitswelt, Dinge, die seine Jugend mitgeprägt hatten und ihm nun in der Lebensrückschau wieder neu und beklemmend nahetraten. Sie wollte er nun offen angehen.

Sein vor zwei Jahren erschienener Roman «Der Fluch der Gletschermühle» handelt von der Not der wehrlosen Hirtenbuben, denen von ruchlosen Erwachsenen auf einsamen Alpen, weitab von jeglichem familiären Schutz, seelische und körperliche Gewalt angetan wurde. Die Erzählung ist fiktiv, aber die geschilderten Ereignisse waren verbürgt.

Wenige Tage nur vor seinem Hinschied hatte ich mit ihm über seine neue Erzählung gesprochen, deren Manuskript er vor kurzem fertiggestellt hatte und die ihm wiederum ein grosses Anliegen war. In diesem bislang unveröffentlichten Text deutet der Arbeitstitel «Nachts im Dunkel» die inhaltliche Richtung an: Tabu und Heuchelei im konservativen Bergdorf mit starren Strukturen, Hierarchie und Doppelmoral, biederer Fassade vor dunklem Hintergrund. Hier geht es, wiederum romanhaft fiktiv, aber doch wirklichkeitsnah, um allmächtige Dorfmagnaten, heimliche Übergriffe, hilflose Opfer, Ohnmacht verletzter Seelen, schweigende Öffentlichkeit, wegschauende Kirche. Valentin wollte denen eine Stimme geben, die damals in ihrer Not allein gelassen wurden, sich kein Gehör verschaffen konnten.

So war neben sein meist heiteres Wesen der früheren Jahre zunehmend auch eine ernste Tonart getreten. Diese war wohl verstärkt worden auch durch familiäre Schicksalsschläge, tragische Todesfälle in seiner Verwandtschaft, die ihm viel Verantwortung übertragen und tiefe seelische Spuren hinterlassen hatten. Es ist gut, auch darum zu wissen, wenn man seine Texte liest.

Seine Erzählungen sind schlicht vorgetragene, aber tiefempfundene Zeugnisse der Mitmenschlichkeit, Akte einer persönlichen Befreiung, die wohl nicht in erster Linie nach literarischen Kategorien beurteilt werden wollen. Hauptanliegen des Autors war es, den schmerzhaften Riss mitten durch jene Welt und ihre Menschen nachzuzeichnen, der ihn und mit ihm viele andere ein Leben lang beschäftigt hat.

Valentin Vincenz hat sich mit seiner Persönlichkeit, mit seinem Wirken und in seinen Werken ein schönes, bleibendes Denkmal in unseren Herzen geschaffen. Wir halten das Andenken an ihn in Ehren. Seinen trauernden Angehörigen entbieten wir unser herzliches Beileid.
Hans Stricker

AUSBILDUNG, BERUFSTÄTIGKEIT
Geboren in Andiast GR als drittes Kind von Balzer Vincenz, Senn, und von Mariurschla, geb. Sgier.

Primar- und Sekundarschule in Andiast. Gymnasium am Christkönigkolleg in Nuolen SZ, dann an der Kantonsschule in Chur (1964 Maturität Typ B).

Studium der Romanistik an der Universität Zürich ab Herbst 1964. 1965/66 zwei Semester an der Universität Genf. Thema der Lizentiatsarbeit: Namensammlung der Gemeinden Buchs und Sevelen.

Winter 1969/70 Beginn der Mitarbeit am Forschungsprojekt St.Galler Namenbuch: Archivarbeit (Gemeinden Buchs und Sevelen). Sommer 1970: Feldaufnahmen (Buchs und Sevelen).

Während der letzten Studiensemester Unterricht als Hilfslehrer an verschiedenen Mittelschulen. Studienabschluss (Lizentiat) im Frühjahr 1971. Doktorexamen in Zürich im Frühjahr 1978.

1971–2007 Hauptlehrer an der Kantonsschule Sargans.

 

DIE WICHTIGSTEN PUBLIKATIONEN VON VALENTIN VINCENZ

Namenforschung, Sprachgeschichte

Der Ortsname Buchs. – In: St. Galler Namenbuch 1956–1977. St.Gallen, 1978, 20–25.

Grundsätze und Praxis der Schreibung von Orts- und Flurnamen. – In: Terra Plana (Mels) 1/1980, 36–38.

Die Namenforschung im Dienste von Sprach-, Siedlungs-, Kultur- und Naturgeschichte. – In: 120. Neujahrsblatt, hg. vom Historischen Verein des Kantons St.Gallen. St.Gallen, 1980, 22–30.

Die romanischen Orts- und Flurnamen von Buchs und Sevelen. St.Galler Namenbuch, Romanistische Reihe, Bd. 3. Weite-Fontnas, 1983. (Dissertation.)

Die romanischen Orts- und Flurnamen des Sarganserlands, eine Herausforderung für die Sprach- und Namenforschung. – In: Terra Plana (Mels) 2/1983, 21–25.

Einige Beispiele von [Gamser] Flurnamen romanischer Herkunft. – In: Kessler, Noldi: Gams, ein kurzer Gang durch eine lange Geschichte. Gams, 1985, 22.

Die Namen am Calanda: Sinn und Bedeutung der Namen. – In: Calanda (Festschrift 125 Jahre Sektion Rätia SAC), Chur, 1988, 11–19.

Von einem verborgenen alträtoromanischen Sprachschatz im Pizolgebiet. – In: Terra Plana (Mels) 2/1991, 46–-48.

Die romanischen Orts- und Flurnamen von Gams bis zum Hirschensprung. St.Galler Namenbuch, Romanistische Reihe, Bd. 4. Buchs, 1992.

Die romanischen Orts- und Flurnamen von Vilters und Wangs. St. Galler Namenbuch, Romanistische Reihe, Bd. 5. Mels, 1993.

Deutung des Namens «Sexmor». – In: Sarganserländer, 11. Juni 1998, S. 6.

Von Abach bis Zerfina. Das Sarganserland im Spiegel der Namenlandschaft. Mels, 2014.

Zwischen Péz Fluaz und La Pella. Die Flurnamen von Andiast als Quelle der Dorfgeschichte. Mels, 2016.

Als die Wartauer oberen Dörfer Churwälsch sprachen. – In: Terra Plana (Mels) 2/2018, S. 21–26.

Das Werdenberger Namenbuch – Pionierarbeit mit Nachhaltigkeit. – In: Werdenberger Geschichte/n 1, Buchs, 2018, 270–277.


Historisch-Volkskundliches
Feldgrau bis Bunt. Dokumente und Erinnerungen aus dem Soldatenleben. Werdenberger Schicksale, Band III (Hg. Paul Hugger.) Buchs, 1991.


Kinderbücher
Grischetta auf dem Maiensäss / si culm / au mayen / al monte. Kinderbuch, Text in den vier Landessprachen. Illustration Fortunat Cagienard. Mustér, 1984.

Grischetta im Haus / en casa. Kinderbuch, Text deutsch und surselvisch. Illustration Fortunat Cagienard. Mustér, 1985.

Andri hat einen Traum / Andri ha in siemi. Text deutsch und surselvisch. Illustration Leo Grässli. Schaan, 2008.
 

Romane
Der Fluch der Gletschermühle. Roman. Mels, 2019.

Il Multè fatal. Roman. Mels, 2020. [romanische Version von: Der Fluch der Gletschermühle]

Nachts im Dunkel. Roman. [Manuskript]
 

LEHRTÄTIGKEIT, LEHRAUFTRÄGE
Hauptlehrer für Französisch und Italienisch an der Kantonsschule Sargans (von 1971 bis 2007).

Lehraufträge für Rätoromanische Linguistik und Literatur an den Universitäten Fribourg (Freiburg i. Ü.) und Zürich.